SONJA *
Meine Familie sagte, «Papi würde sowas nie machen».
Als ich erzählte, dass mein Vater mich sexuell missbraucht hat, sagten die Leute «Du bist ein Kind, du hast doch keine Ahnung von Sex». Aber ich wusste ganz genau, was Sex ist, denn ich hatte es ja gehabt. Ich war mir nur nicht sicher, ob es gut oder schlecht ist. Aber als elfjähriges Kind spürt man, dass etwas nicht stimmt.
Meine Eltern waren geschieden. Jedes zweite Wochenende verbrachte ich bei meinem Vater, der mich jedoch bis dahin nie gross beachtet hatte. Als ich elf Jahre alt wurde, hat sich das geändert. Erst ist er an den Besuchswochenenden auf mich drauf gesessen und hat sich an mir gerieben. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Als meine Mutter ihn darauf ansprach, erklärte er, wir hätten nur gerangelt.
So ging es weiter. Irgendwann hat er seinen Penis ausgepackt und mir in den Mund gesteckt. Noch immer dachte ich, das sei vielleicht normal. Papis machen das halt. Er gab mir Geschenke. Ich fühlte mich wertgeschätzt und hatte das Gefühl, jetzt liebe er mich endlich.
Dann kam das Wochenende, an dem er bei uns zuhause übernachtete. Weil meine Mutter das Bett nicht mit ihm teilen wollte, schlief er bei mir. Ich freute mich, mit meinen Papi im selben Bett zu übernachten. Doch in dieser Nacht hat er mit mir geschlafen. Für mich brach die Welt zusammen.
Ich begann zu zeichnen. An den Füssen aufgehängte Menschen mit aufgeschlitzen Bäuchen, aus denen Eingeweide hingen. Die Lehrer fanden es völlig gestört, mit elf Jahren so was zu malen. Nach dem Grund fragte keiner. Ich begann zu rauchen und zu kiffen. Das half mir, etwas abzuschalten. Bekifft schien alles etwas weniger schlimm zu sein.
Meine Familie sagte, «Papi würde sowas nie machen». Als ich mich meiner besten Schulfreundin anvertraute, verboten ihr die Eltern, mit mir Kontakt zu haben. Ich sei ein Psycho. Traf ich sie im Dorf, wechselten sie die Strassenseite. Ich fühlte mich als Böse und suchte die Schuld bei mir. Dachte, dass ich es nicht besser verdient hätte.
Nach wie vor musste ich alle zwei Wochen zu meinem Vater. Es begann ein Katz- und Maus-Spiel. Ich wich ihm aus, so gut ich konnte. Manchmal erwischte er mich wieder und ich musste ihm einen blasen oder er spritzte auf mir ab. Ich schlief nur noch in XL-Kleidern, damit er es möglichst schwierig hätte, mich auszuziehen. Das ging noch ein Jahr so. Dann kam ich in ein Heim.
Ich vertraute mich dem Team an. Sie sagten mir, sie hätten gerade eine Bewohnerin gehabt, die einen Missbrauch simuliert habe. Sie müssten erst abklären, ob ich wirklich missbraucht worden sei. Für mich hiess das: Niemand wird mir je glauben. Ich hörte auf, davon zu erzählen.
Ich sagte mir, dass es nun eh nicht mehr darauf ankommt, wie ich mit meinem Körper umgehe. Mit dreizehn, als meine Schulfreundinnen noch mit Puppen spielten, habe ich Drogen konsumiert und angeschafft.
Liebe, so dachte ich, sei Sex. Wenn ich hinhalte, dann liebt mich der andere. Also startete ich jede Beziehung mit Sex. Hoffte, dass es irgendwann mal anders wäre, dass mal jemand nicht einfach über mich hinweg geht - obwohl ich es ja immer angeboten habe. Doch in der Drogenszene, wo ich anschaffte, trifft man nur unanständige Männer. Solche, die einen wieder missbrauchen.
Angezeigt habe ich nie jemanden. Zu gross war meine Angst davor, was passiert, wenn die nach drei Jahren wieder aus dem Gefängnis kommen würden.
Lange wollte ich auch meinen Vater schützen und verzichtete darauf, ihn anzuzeigen. Man wünscht sich ja doch irgendwie, dass er einen gerne hat. Das macht es nicht einfacher. Als ich vor ein paar Jahren allen Mut zusammen genommen und Anzeige gegen ihn erstattet habe, hiess es, die Geschichte sei verjährt. Ich konnte es nicht glauben. Für mich ist nichts verjährt. Ich leide noch immer unter den Folgen.
Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich den Hick auf meiner Nase. Er erinnert mich dran, dass ich nicht Nein sagen darf. Den Hick habe ich von meinem Vater. Als ich mich geweigert hatte, ihm einen zu blasen und ihn stattdessen biss, packte er meinen Kopf und stiess ihn gegen die Wand. Danach wagte ich nicht mehr Nein zu sagen.
Auch heute kann ich schlecht Nein sagen, mich schlecht abgrenzen. Speziell bei Menschen, die mir nahe stehen. Ich merke immer zu spät, wenn ich etwas gar nicht gewollt und trotzdem zugestimmt habe. Dann bin ich frustriert. Es ist krass, dass ich immer noch damit zu kämpfen habe. Der Missbrauch ist jetzt fast zwanzig Jahre her.
Es kommt mir so vor, wie wenn ich täglich einen riesigen Spagat mache. Zwischen dem, was war und dem, was ich jetzt bin. Heute bin ich Hausfrau und Mutter. Ich lebe das, was ich mir immer gewünscht habe. Von dem ich glaubte, mir stehe das nicht zu.
Die Alpträume haben erst vor kurzem nachgelassen. Unzählige Therapiestunden habe ich hinter mir. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich wertvoll und gut bin. Und behandle ich mich auch so – selbst wenn ich mich nicht immer danach fühle. Ich habe den Menschen vergeben. Mit meiner Mutter habe ich mich ausgesprochen und es hat ihr unendlich leid getan. Ich habe gelernt, nicht andere dafür verantwortlich zu machen, wie sie mit meinen Gefühlen umgehen. Sondern dass ich mir selbst Sorge tragen muss.
Damals hätte ich mir gewünscht, andere würden mir Sorge tragen. Jemand würde mir glauben, mich ernst nehmen, für mich einstehen. Ich war ein Kind, ich hätte Erwachsene gebraucht, die für mich einstehen. Die mir gesagt hätten, was ich tun soll. Oder meine Familie begleitet hätten. Ich glaube, dadurch wäre einiges anders gekommen.