JESSICA*

"Ich dachte immer, ich sei selber schuld."

 

Ich sehe mich, wie ich als kleines Mädchen die Treppen hochrenne und mich im Zimmer unter der Decke verkrieche. Ich weine – eben ist es wieder passiert.

Heute bin ich erwachsen, der Schmerz ist weg, die Bilder in meinem Kopf bleiben. Ich bin Jessica C.*. Als Kind wurde ich sexuell missbraucht.

Warum hat nie jemand mit mir darüber gesprochen? Warum hat es keiner gewusst?  Oder haben sie es gewusst und einfach nichts gesagt? Ich kann mich nicht an alles  erinnern. Einige Bilder sehe ich verschwommen – andere hingegen ganz klar.

Es waren zwei ältere Jungs aus der Nachbarschaft. Zu Beginn fand ich sie richtig nett. Sie haben mich mehrmals besucht. Meine Mutter war berufstätig und hat mich oft alleine gelassen. Einmal kamen sie abends, ich lag schon im Bett. Als sie wieder weg waren, wusste ich nicht recht, ob ich alles nur geträumt hatte. Ich hatte Schmerzen im Unterleib und diese Bilder im Kopf. Aber ich konnte nicht beurteilen, was eben passiert war. Ich war noch zu klein, hatte keinen Namen dafür.

Heute weiss ich, dass es sexueller Missbrauch war.

Als Kind dachte ich immer, es liege an mir. Ich sei einfach krank, komisch, anders. Ich war ein stilles Kind, habe mich immer mehr zurückgezogen. In der Schule fing ich an zu lispeln und ich litt ständig an Blasenentzündungen. Ich blieb viel zu Hause, las einen Krimi nach dem andern. Das hat mich interessiert.

Später in der Mittelstufe wurde ich erneut Opfer von einem sexuellen Übergriff.

Warum hat es immer mich getroffen? Habe ich das ausgestrahlt? War ich selber schuld?

Diesmal war es ein älterer Mann mit graumeliertem Haar. Er lauerte mir auf dem Schulweg auf. Ich musste mich neben ihn auf eine Holzbank setzen. Dann fing er an, die Innenseite meiner Oberschenkel zu streicheln. Ich war wie versteinert und konnte einfach nicht reagieren. So schnell mich meine Beine tragen konnten, lief ich danach weg. Ich ging zu meiner Mutter und wir haben es der Lehrerin erzählt.

Ob sie mir geglaubt haben? Ich bin mir nicht sicher. Aber in den kommenden Wochen holte mich meine Grossmutter von der Schule ab. Somit war das Thema für die Erwachsenen erledigt. Für mich aber nicht.

Das Schlimmste waren nicht die Berührungen, sondern, dass ich diesen Typ danach immer wieder im Quartier sah. Er lebte mit einer jüngeren Frau zusammen. Mit drei kleinen Kindern, von denen er nicht der Vater war. Ich dachte immer, was wenn diese Kinder etwas älter sind? Bei diesem Gedanken schaudert es mich noch heute.  

Seither sind viele Jahre vergangen. Ich habe mich in meinem Leben oft wertlos gefühlt und viele falsche Entscheidungen getroffen. Es gab Jahre, da spürte ich mich überhaupt nicht. Heute bin ich auf dem Weg zurück in ein normales Leben. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich früher darüber hätte sprechen können. Wenn mich früher jemand ernst genommen hätte.

Rückblickend weiss ich, wie wichtig es ist, dass man einen Missbrauch verarbeiten kann – anstatt still zu leiden und frustriert zu sein.

Wenn du etwas Ähnliches erlebt hast, bitte sprich darüber! Auch wenn es unangenehm ist und schmerzt.