"Chummernummere,

da isch de Roy"

 
 

INTERVIEW MIT ROY GERBER

Roy Gerber ist Gründer und Geschäftsführer der Kummernummer von Be Unlimited und nimmt seit 2011 mit seinem Team täglich Anrufe auf der Kummernummer entgegen.

Der Unternehmer hat nach dem erfolgreichen Aufbau dreier Firmen die Wirtschaftswelt hinter sich gelassen und in Los Angeles ein Theologiestudium mit Schwerpunkt Katastrophen Seelsorge absolviert. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz arbeitete er als Betriebsleiter der Sunestube, Notschlafstelle NEMO und aufsuchender Gassenarbeit so wie als Mitglied der Geschäftsleitung der Sozialwerke Pfarrer Sieber.

 

 

Das Telefon der Kummernummer klingelt. Mit welchen Worten nimmst du ab?

Chummernummere, da isch de Roy.

 

Wie geht es dann weiter?

Das ist so verschieden wie die Menschen, die uns anrufen. Es kann sei, dass ein 13-jähriges Mädchen anruft und fragt, ob es normal sei, dass sie ihrem Vater zwei bis dreimal täglich 'einen blasen' muss. Ihr Vater sage, das sei normal, sie selbst ist unsicher und mag einfach nicht mehr. Oder ein Junge, der sexuell missbraucht wird und nicht weiss, wie er aus der Situation rauskommt.

 

Was sagt man auf so etwas?

Häufig weiss ich trotz meiner Ausbildung und meiner jahrelangen Erfahrung auf dem Gebiet selbst nicht sofort, was sagen. In einem ersten Schritt geht es vor allem darum, zuzuhören und den Anrufenden zu glauben.

 

Sind alle Gespräche gleich so intensiv?

Manchmal rufen die Kinder und Jugendlichen auch wegen etwas anderem an. Berichten von weniger gravierendem Kummer und schauen, wie wir darauf reagieren. Ob wir ihnen glauben und ob wir ihnen Verständnis entgegenbringen. Oder sie fragen für eine Kollegin, die missbraucht wird. Wie sie ihr helfen können, was sie ihr sagen sollen.

 

Wie helft ihr den Kindern und Jugendlichen, die euch anrufen?

Die Kinder und Jugendlichen rufen anonym an und wir helfen nur in dem Rahmen, den sie uns vorgeben. Warum soll ein Mädchen uns mehr vertrauen als ihrem Vater, der sie missbraucht? Das ist nicht mit einer halben Stunde Telefonieren gemacht.

 

Wir wollen, dass die Jugendlichen wissen: In uns haben sie einen Partner an ihrer Seite, jemanden, der ihnen glaubt, der sie unterstützt und mit ihnen den Weg geht.

Wie geht es in einem solchen Fall weiter?

Wir wollen, dass die Jugendlichen wissen: In uns haben sie einen Partner an ihrer Seite, jemanden, der ihnen glaubt, der sie unterstützt und mit ihnen den Weg geht. Viele rufen uns nach dem ersten Gespräch wieder an. Und haben irgendwann den Mut, sich persönlich mit uns zu treffen.

 

Wie läuft so ein persönliches Treffen ab?

Wir gehen da immer zu viert hin. Zwei Mitarbeitende vom Care-Team und die beiden lizenzierten Therapiehunde Micah und Benaiah.

Roy Gerber mit den beiden Therapiehunden Micah und Benaiah

Roy Gerber mit den beiden Therapiehunden Micah und Benaiah

 

Warum nimmst du die Hunde mit?

Im Gegensatz zu Menschen begegnen die Therapiehunde Kindern und Jugendlichen ohne sie zu werten oder etwas von ihnen zu erwarten. Sie sind einfach für sie da. Man selbst hat oft das Gefühl, man müsse das Richtige sagen. Viel wichtiger jedoch ist es auszuhalten, einfach mal nichts zu sagen, einfach mitzufühlen, zu schweigen. Die Hunde helfen uns in solchen Situationen extrem.

 

Wie geht es nach einem solchen Treffen weiter?

Sehr oft sagen die Personen an solchen Treffen, dass es sich bei der angeblichen Kollegin um sie selbst handle und sie selbst betroffen seien. Wir wissen, was man aufgrund der Gesetzeslage machen kann und arbeiten eng mit der Polizei, Staatsanwaltschaft und Opferhilfsorganisationen zusammen. Aber nur, wenn die betroffenen Personen das wünschen. In erster Linie wollen wir die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen wahren. Wir bieten ihnen Gespräche mit geschulten Personen an und begleiten sie in und durch ihre Situation.

 

Jede Geschichte und jedes Telefonat ist krass. Es gibt keinen Anruf, der einem nicht nahe geht.

Erinnerst du dich an einen Anruf, der dich sehr beschäftigt hat?

Jede Geschichte und jedes Telefonat ist krass. Es gibt keinen Anruf, der einem nicht nahe geht. Teils so abartige Dinge, die ich gar nicht aussprechen möchte, weil sie so schlimm sind. Manchmal muss ich auf der Rückfahrt nach einem Gespräch anhalten und erbrechen, weil mir die Abartigkeit so nahe geht. Wenn erwachsene Männer mit Kindern Geschlechtsverkehr haben, eine Frau einen Säugling täglich sexuell missbraucht. Oder wenn man erfährt, dass Pornofilme mit Säuglingen gedreht werden. All das wird über die Kummernummer an uns herangetragen.

 

Warum bist du so engagiert?

Ich habe dem sexuellen Missbrauch in der Schweiz den Kampf angesagt. Kinder- und Jugendpornografie ist weltweit die grösste Einnahmequelle. Ich werde mit allen Mitteln und aller Kraft dagegen ankämpfen, dass das nicht mehr so ist. Dazu braucht es Menschen, die mithelfen. Die sagen: Nicht in meinem Dorf! Nicht in meiner Stadt! Nicht in meinem Land!

 

Für wen seid ihr da?

In erster Linie für betroffene Kinder und Jugendliche, jedoch immer mehr auch für Erwachsene, die sich bezüglich eines erlebten Missbrauchs jemandem anvertrauen möchten. Ausserdem haben wir auch Anrufe von Fussballcoaches, Sportvereinen, Kirchen, Schulen, Lehrern und Jugendleiter, die unsere Hilfe im Umgang mit einem von Missbrauch betroffenen Kind benötigen. Wir unterstützen sie mit Informationen, Kontakten und begleiten sie oft auch in Gesprächen.

 

Unser Ziel ist es, Menschen, die mit Kindern zusammen arbeiten, zu sensibilisieren und zu unterstützen.

Wie engagiert ihr euch neben der Betreuung der Kummernummer?

Unser Ziel ist es, Menschen, die mit Kindern zusammen arbeiten, zu sensibilisieren und zu unterstützen. Unser Care-Team arbeitet mit den öffentlichen Schulen zusammen und geht mit den Therapiehunden auf Pausenplätze und in Kinderlager. Dort können die Kinder einfach die Hunde streicheln, oder diese Zeit nutzen, um mit uns über ihren Kummer zu sprechen. Oder sie fassen Vertrauen und rufen uns auf der Kummernummer an. Ausserdem machen wir die Sendung Kummerstunde auf Radio Maria, wo wir sehr viele Menschen erreichen. Die Anzahl der Anrufe und der Treffen nimmt zu.

 

Wie deckt ihr diesen Bedarf personell ab?

Wir sind daran, interessierte Personen zu schulen. Leute, die Teil unseres Care-Teams werden wollen, können unser Weiterbildungsangebot (Be ready 1 bis 4) besuchen und sich so entsprechende Kompetenzen erarbeiten.

 

Kirche und Gott sind Begriffe, die im Zusammenhang mit dir immer wieder auftauchen. Ist die Kummernummer Teil einer christlichen Institution?

Nein, aber für mich persönlich und das Kernteam ist der Glaube an Jesus Christus wichtig. Wir sind in unserer alltäglichen Arbeit jedoch nicht missionarisch tätig und sprechen im Rahmen unserer Tätigkeit nur über unseren Glauben, wenn dies von den Gesprächsuchenden aktiv gewünscht wird.

Heute werden in der Schweiz gemäss UBS Optimus Studie jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge sexuell missbraucht. Sie und all die anderen 100’000 Frauen und Männer haben es verdient, dass man ihnen Gehör schenkt.


Warum braucht es die Kummernummer?

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Heute werden in der Schweiz gemäss UBS Optimus Studie jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge sexuell missbraucht. Sie und all die anderen 100'000 Frauen und Männer haben es verdient, dass man ihnen Gehör schenkt. Wir können uns als Gesellschaft nicht leisten, nicht für diese Leute da zu sein. Rein schon finanziell kostet uns sexueller Missbrauch Millionen von Schweizer Franken an Arbeitsunfähigkeiten und Medikamenten.


Wie finanziert sich die Kummernummer?

Wir sind hundertprozent durch Spenden finanziert. Für die Kinder, die anrufen, ist alles kostenlos. Uns jedoch kostet eine Minute Kummernummer einen Franken. Das heisst hochgerechnet über eine halbe Million Franken im Jahr. Dabei spreche ich nur von den Kosten des Telefondienstes. Wir sind angewiesen auf Leute, Firmen und Stiftungen, die uns finanziell unterstützen. Und Personen, die sich ehrenamtlich bei uns einbringen wollen.

 

Welches Erlebnis im Zusammenhang mit der Kummernummer bleibt dir positiv in Erinnerung?

Wir haben immer häufiger ältere Menschen, die bei uns anrufen. Die Älteste war 91. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer 85-Jährigen Dame, die weder mit ihrem Mann, noch ihren Kindern noch sonst jemandem von dem erlebten sexuellen Missbrauch erzählt hat. Nach unserem Gespräch hat sie sich bedankt und gesagt, sie hätte zum ersten Mal über diesen Schmerz und die Scham sprechen können, ihr sei es in ihrem ganzen Leben noch nie so gut gegangen. Da hatte ich Tränen in den Augen.