Kummernummer_001.jpg

Lebensberichte von Betroffenen.

 

Warnung: Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sexueller Missbrauch ist herausfordernd und erschütternd.

Für Betroffene besteht Triggergefahr.

 


Annabelle*

"Die Erinnerungen an den Missbrauch als Kind kamen wieder hoch. Der erste Suizidversuch folgte.."

 

Ab 6 Jahren wurde ich sexuell missbraucht. Ich sagte Niemandem etwas. Nach ein paar Jahren hörte der Missbrauch auf und ich schien das Ganze vergessen und verdrängt zu haben.

Später habe ich die Ausbildung als Krankenschwester angefangen. Nach einem Spätdienst wurde ich im Bahnhof von drei Typen aufgefordert mitzukommen. Die Angst lähmte mich. Ich dissoziierte und ging mit. In einem Wald wurde ich von zwei vergewaltigt, der Dritte hielt mir das Messer an den Hals. Auch von diesem Vorfall habe ich Niemandem etwas erzählt weil ich mich schämte, dass ich "vergessen" habe mich zu wehren. Zu diesem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt.

Die Erinnerungen an den Missbrauch als Kind kamen wieder hoch. Der erste Suizidversuch folgte und ich landete in der Psychiatrie auf der geschlossenen Abteilung. Ich bekam verschiedene Diagnosen, unter anderem Borderline Persönlichkeitsstörung. Zum Schutz vor mir wurde ich oft an der Matratze angegurtet. Es gab noch mehr Übergriffe, noch mehr Suizidversuche.

Mit 18 habe ich zum ersten Mal über den Missbrauch als Kind gesprochen. Ich bin überzeugt, wenn ich es schon früher gemacht hätte, wäre mein Lebensweg ein anderer gewesen.

Ich lernte nicht mich zu wehren. Ich wurde schwanger, heiratete und es ging mir besch...

Heute geht es mir gut. Ich bin 33, geschieden, alleinerziehend mit 3 Kindern und gehe in grösseren Abständen noch in die psychiatrische Behandlung.

 
 

Eliane*

«Nein, der macht das nicht! Das würde man ihm ansehen.»

 

Den Verdacht hatte ich schon länger. Bevor meine Tochter alles erzählt hat. Aber wenn ich ihn beobachtete, dachte ich immer: «Nein, der macht das nicht! Das würde man ihm ansehen.» Ich begann, an mir zu zweifeln. Dass ich überhaupt sowas denken konnte von ihm. Er war ihr Patenonkel, darum habe ich vieles zugelassen. Kinder hängen doch an ihren Paten. Als Mutter will man diese Beziehung fördern. Darum hatte ich mich nicht dafür, Nein zu sagen, als er mir anbot, dass sie mal bei ihm und seiner Familie übernachten könne.

Sie hat dann irgendwann begonnen, sich in die Hose zu machen, hat sich versteckt, ist in eine Ecke gesessen und hat geweint. Aber nie wollte sie sagen, warum. In der Schule gingen ihre Leistungen zurück. Manchmal wusste sie einfach nicht mehr wie rechnen. Die Lehrerin sagte, sie erscheine zeitweise wie abwesend.

Gewisse Verhaltensweisen verstehe ich jetzt erst im Nachhinein. Damals fand ich es sehr schwierig. Ich versuchte, sie altersentsprechend aufzuklären, indem ich ihr ab und zu gesagt habe: «Das ist dein Körper. Dich darf man nicht anfassen. Und wenn jemand dir sagt, du dürfest nichts davon erzählen, dann ist es besonders wichtig, dass du mir das erzählst. Egal, wer es ist.» Und habe extra nahestehende Personen wie Onkel und Opa erwähnt. Einmal fragte sie nach:« Auch der Götti nicht?» Ich fragte zurück, ob ihr Götti sie denn berühre? Daraufhin antwortete sie: «Nein, er kitzelt mich nur. Am Bauch.»

Sie hätte es ja erzählen wollen. Aber dann fielen ihr seine Drohungen wieder ein. Er würde den Hund töten beispielsweise. Also sie sagte nichts mehr. Später, nachdem sie endlich alles erzählt hatte, fragte sie mehrere Wochen immer wieder: «Müsst ihr, Mama und Papa, jetzt sterben?»

Als sie noch kleiner war hat sie bei jedem Menschen und bei jedem Tier einen Pimmel hingezeichnet. Oder gebastelt. Es war immer Thema. Ich war ja nicht spröde, aber ich fand das immer etwas übertrieben – wollte meinen Kindern eigentlich einen normalen, gesunden Umgang mit Sexualität ermöglichen.

Als sie mir schliesslich zum ersten Mal davon erzählte, hätte ich gleich zum Arzt gehen und einen Abstrich machen lassen sollen. Das war mein grösster Fehler. Ich habe ihr trotz meinen Gefühlen nicht ganz geglaubt. Ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht eine Art Schutzmechanismus. So musste ich mich nicht damit auseinandersetzen.

Denn der Schmerz, den man empfindet, wenn ein Kind einem von Missbrauch erzählt, der ist unglaublich. Als sie begonnen hat, darüber zu sprechen, als sie täglich von neuen Übergriffen erzählt hat. Ehrlich, ich dachte nur: Nein, bitte erzähl mir nichts. Bitte nicht schon wieder. Es ist so extrem. Die Emotionen, wie sie weinen. Es hat ihr beim Erzählen komplett die Luft abgeschnürt. Sie konnte kaum mehr atmen. Für einen selbst ist es, wie wenn man zuschauen würde, wie er es gemacht hat. Es ist so brutal zu sehen, wie sehr das Kind dem Täter ausgeliefert war. Und dann tut es zuhause so, wie wenn nichts gewesen wäre. Immer, wenn sie mir wieder etwas davon erzählt hat, war ich danach eine Woche wie begraben.

Ich kann den Täter nicht einmal hassen für das, was er gemacht hat. Das ist mein Glück wahrscheinlich. Ich kann es nicht akzeptieren, aber ich kann ihn nicht hassen. Ich will einfach, dass Gerechtigkeit passiert. Dass er hinstehen muss für das, was er gemacht hat. Dass er ein paar Jahre ins Gefängnis muss und gezwungen wird, über seine Taten nachzudenken. Auch zum Schutz für alle missbrauchten Kinder. Meines ist jetzt nicht mehr sein Opfer, aber es könnte noch viele andere geben.

Wir haben ihn angeklagt. Doch es scheint aktuell so, als würde das Verfahren mangels Beweisen eingestellt. Daran darf ich nicht denken. Ich kämpfe dafür, dass wir eine Chance haben vor Gericht. Das kostet mich enorm viel Energie.

Mein positives Denken hilft mir immer wieder. Wenn ich sehe, wie meine Tochter wieder zu lachen beginnt. Vorher habe ich meine Kinder schon wahrgenommen. Aber jetzt nehme ich mir viel mehr Zeit, ihnen einfach zuzusehen. Und ich bin viel dankbarer. Es hilft mir auch enorm, dass ich jetzt verstehe, warum sie nicht manchmal schlafen kann oder traurig ist.

Manchmal fragte meine Tochter mich: «Bin ich schuld, dass der Götti das mit mir gemacht hat?» Als Kind trägt man die ganze Schuld immer mit. Ich will nicht darüber nachdenken, wie sie sich in einigen Jahren entwickelt hätte, wenn das nicht herausgekommen wäre. Ich denke, sie wäre womöglich im Leben gescheitert, obwohl wir ihr als Eltern alles gegeben haben. Wahrscheinlich kann dies alles nur heilen, indem wir ihr einfach glauben, ihr zuhören, für sie da sind und versuchen, sie zu verstehen. Sie lieben.

Wenn Kinder merken, dass sie in Sicherheit sind, können sie sich öffnen. Da hilft es schon so viel, wenn man als Eltern hinschaut, diesen anstrengenden Weg gemeinsam mit den Kindern geht. Mit ihr da durch geht. So hart es ist. Das Schlimmste für ein Kind, das missbraucht ist, wenn die Eltern wegschauen und sagen, das stimme alles nicht.

 
 

JESSICA*

"Ich dachte immer, ich sei selber schuld."

 

Ich sehe mich, wie ich als kleines Mädchen die Treppen hochrenne und mich im Zimmer unter der Decke verkrieche. Ich weine – eben ist es wieder passiert.

Heute bin ich erwachsen, der Schmerz ist weg, die Bilder in meinem Kopf bleiben. Ich bin Jessica C.*. Als Kind wurde ich sexuell missbraucht.

Warum hat nie jemand mit mir darüber gesprochen? Warum hat es keiner gewusst?  Oder haben sie es gewusst und einfach nichts gesagt? Ich kann mich nicht an alles  erinnern. Einige Bilder sehe ich verschwommen – andere hingegen ganz klar.

Es waren zwei ältere Jungs aus der Nachbarschaft. Zu Beginn fand ich sie richtig nett. Sie haben mich mehrmals besucht. Meine Mutter war berufstätig und hat mich oft alleine gelassen. Einmal kamen sie abends, ich lag schon im Bett. Als sie wieder weg waren, wusste ich nicht recht, ob ich alles nur geträumt hatte. Ich hatte Schmerzen im Unterleib und diese Bilder im Kopf. Aber ich konnte nicht beurteilen, was eben passiert war. Ich war noch zu klein, hatte keinen Namen dafür.

Heute weiss ich, dass es sexueller Missbrauch war.

Als Kind dachte ich immer, es liege an mir. Ich sei einfach krank, komisch, anders. Ich war ein stilles Kind, habe mich immer mehr zurückgezogen. In der Schule fing ich an zu lispeln und ich litt ständig an Blasenentzündungen. Ich blieb viel zu Hause, las einen Krimi nach dem andern. Das hat mich interessiert.

Später in der Mittelstufe wurde ich erneut Opfer von einem sexuellen Übergriff.

Warum hat es immer mich getroffen? Habe ich das ausgestrahlt? War ich selber schuld?

Diesmal war es ein älterer Mann mit graumeliertem Haar. Er lauerte mir auf dem Schulweg auf. Ich musste mich neben ihn auf eine Holzbank setzen. Dann fing er an, die Innenseite meiner Oberschenkel zu streicheln. Ich war wie versteinert und konnte einfach nicht reagieren. So schnell mich meine Beine tragen konnten, lief ich danach weg. Ich ging zu meiner Mutter und wir haben es der Lehrerin erzählt.

Ob sie mir geglaubt haben? Ich bin mir nicht sicher. Aber in den kommenden Wochen holte mich meine Grossmutter von der Schule ab. Somit war das Thema für die Erwachsenen erledigt. Für mich aber nicht.

Das Schlimmste waren nicht die Berührungen, sondern, dass ich diesen Typ danach immer wieder im Quartier sah. Er lebte mit einer jüngeren Frau zusammen. Mit drei kleinen Kindern, von denen er nicht der Vater war. Ich dachte immer, was wenn diese Kinder etwas älter sind? Bei diesem Gedanken schaudert es mich noch heute.  

Seither sind viele Jahre vergangen. Ich habe mich in meinem Leben oft wertlos gefühlt und viele falsche Entscheidungen getroffen. Es gab Jahre, da spürte ich mich überhaupt nicht. Heute bin ich auf dem Weg zurück in ein normales Leben. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich früher darüber hätte sprechen können. Wenn mich früher jemand ernst genommen hätte.

Rückblickend weiss ich, wie wichtig es ist, dass man einen Missbrauch verarbeiten kann – anstatt still zu leiden und frustriert zu sein.

Wenn du etwas Ähnliches erlebt hast, bitte sprich darüber! Auch wenn es unangenehm ist und schmerzt.

 

 

 

 
 

SONJA *

Meine Familie sagte, «Papi würde sowas nie machen».

 

Als ich erzählte, dass mein Vater mich sexuell missbraucht hat, sagten die Leute «Du bist ein Kind, du hast doch keine Ahnung von Sex». Aber ich wusste ganz genau, was Sex ist, denn ich hatte es ja gehabt. Ich war mir nur nicht sicher, ob es gut oder schlecht ist. Aber als elfjähriges Kind spürt man, dass etwas nicht stimmt.

Meine Eltern waren geschieden. Jedes zweite Wochenende verbrachte ich bei meinem Vater, der mich jedoch bis dahin nie gross beachtet hatte. Als ich elf Jahre alt wurde, hat sich das geändert. Erst ist er an den Besuchswochenenden auf mich drauf gesessen und hat sich an mir gerieben. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Als meine Mutter ihn darauf ansprach, erklärte er, wir hätten nur gerangelt.

So ging es weiter. Irgendwann hat er seinen Penis ausgepackt und mir in den Mund gesteckt. Noch immer dachte ich, das sei vielleicht normal. Papis machen das halt. Er gab mir Geschenke. Ich fühlte mich wertgeschätzt und hatte das Gefühl, jetzt liebe er mich endlich.

Dann kam das Wochenende, an dem er bei uns zuhause übernachtete. Weil meine Mutter das Bett nicht mit ihm teilen wollte, schlief er bei mir. Ich freute mich, mit meinen Papi im selben Bett zu übernachten. Doch in dieser Nacht hat er mit mir geschlafen. Für mich brach die Welt zusammen.

Ich begann zu zeichnen. An den Füssen aufgehängte Menschen mit aufgeschlitzen Bäuchen, aus denen Eingeweide hingen. Die Lehrer fanden es völlig gestört, mit elf Jahren so was zu malen. Nach dem Grund fragte keiner. Ich begann zu rauchen und zu kiffen. Das half mir, etwas abzuschalten. Bekifft schien alles etwas weniger schlimm zu sein.

Meine Familie sagte, «Papi würde sowas nie machen». Als ich mich meiner besten Schulfreundin anvertraute, verboten ihr die Eltern, mit mir Kontakt zu haben. Ich sei ein Psycho. Traf ich sie im Dorf, wechselten sie die Strassenseite. Ich fühlte mich als Böse und suchte die Schuld bei mir. Dachte, dass ich es nicht besser verdient hätte.

Nach wie vor musste ich alle zwei Wochen zu meinem Vater. Es begann ein Katz- und Maus-Spiel. Ich wich ihm aus, so gut ich konnte. Manchmal erwischte er mich wieder und ich musste ihm einen blasen oder er spritzte auf mir ab. Ich schlief nur noch in XL-Kleidern, damit er es möglichst schwierig hätte, mich auszuziehen. Das ging noch ein Jahr so. Dann kam ich in ein Heim.

Ich vertraute mich dem Team an. Sie sagten mir, sie hätten gerade eine Bewohnerin gehabt, die einen Missbrauch simuliert habe. Sie müssten erst abklären, ob ich wirklich missbraucht worden sei. Für mich hiess das: Niemand wird mir je glauben. Ich hörte auf, davon zu erzählen.

Ich sagte mir, dass es nun eh nicht mehr darauf ankommt, wie ich mit meinem Körper umgehe. Mit dreizehn, als meine Schulfreundinnen noch mit Puppen spielten, habe ich Drogen konsumiert und angeschafft.

Liebe, so dachte ich, sei Sex. Wenn ich hinhalte, dann liebt mich der andere. Also startete ich jede Beziehung mit Sex. Hoffte, dass es irgendwann mal anders wäre, dass mal jemand nicht einfach über mich hinweg geht - obwohl ich es ja immer angeboten habe. Doch in der Drogenszene, wo ich anschaffte, trifft man nur unanständige Männer. Solche, die einen wieder missbrauchen.

Angezeigt habe ich nie jemanden. Zu gross war meine Angst davor, was passiert, wenn die nach drei Jahren wieder aus dem Gefängnis kommen würden.

Lange wollte ich auch meinen Vater schützen und verzichtete darauf, ihn anzuzeigen. Man wünscht sich ja doch irgendwie, dass er einen gerne hat. Das macht es nicht einfacher. Als ich vor ein paar Jahren allen Mut zusammen genommen und Anzeige gegen ihn erstattet habe, hiess es, die Geschichte sei verjährt. Ich konnte es nicht glauben. Für mich ist nichts verjährt. Ich leide noch immer unter den Folgen.

Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich den Hick auf meiner Nase. Er erinnert mich dran, dass ich nicht Nein sagen darf. Den Hick habe ich von meinem Vater. Als ich mich geweigert hatte, ihm einen zu blasen und ihn stattdessen biss, packte er meinen Kopf und stiess ihn gegen die Wand. Danach wagte ich nicht mehr Nein zu sagen.

Auch heute kann ich schlecht Nein sagen, mich schlecht abgrenzen. Speziell bei Menschen, die mir nahe stehen. Ich merke immer zu spät, wenn ich etwas gar nicht gewollt und trotzdem zugestimmt habe. Dann bin ich frustriert. Es ist krass, dass ich immer noch damit zu kämpfen habe. Der Missbrauch ist jetzt fast zwanzig Jahre her.

Es kommt mir so vor, wie wenn ich täglich einen riesigen Spagat mache. Zwischen dem, was war und dem, was ich jetzt bin. Heute bin ich Hausfrau und Mutter. Ich lebe das, was ich mir immer gewünscht habe. Von dem ich glaubte, mir stehe das nicht zu.

Die Alpträume haben erst vor kurzem nachgelassen. Unzählige Therapiestunden habe ich hinter mir. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich wertvoll und gut bin. Und behandle ich mich auch so – selbst wenn ich mich nicht immer danach fühle. Ich habe den Menschen vergeben. Mit meiner Mutter habe ich mich ausgesprochen und es hat ihr unendlich leid getan. Ich habe gelernt, nicht andere dafür verantwortlich zu machen, wie sie mit meinen Gefühlen umgehen. Sondern dass ich mir selbst Sorge tragen muss.

Damals hätte ich mir gewünscht, andere würden mir Sorge tragen. Jemand würde mir glauben, mich ernst nehmen, für mich einstehen. Ich war ein Kind, ich hätte Erwachsene gebraucht, die für mich einstehen. Die mir gesagt hätten, was ich tun soll. Oder meine Familie begleitet hätten. Ich glaube, dadurch wäre einiges anders gekommen.

 

 

 
 

SELINA M.*, 21

"Ich hatte das Gefühl, ich müsse doch helfen, schliesslich bezahlen sie mir das Essen und das Bett."

 

Ich habe zweimal meinen Vater verloren. Das erste Mal, da war ich acht. Ich war ein richtiges Papakind und er war für mich die wichtigste Person überhaupt. Dann haben sich meine Eltern nach langem Scheidungskrieg getrennt und wir durften unseren Vater nicht mehr besuchen. Das war extrem hart für mich. Bei meiner Mutter und meinen Geschwistern fühlte ich mich immer wie das fünfte Rad am Wagen, ich war ganz anders als sie. Oft haben sie mich deswegen gehänselt und geplagt.

Dann lernte ich eine tolle Familie kennen. Ich begleitete sie auf die Alp, hütete ihre Kinder und half mit den Tieren und allem, was sonst anfiel. Dafür erhielt ich Kost und Logie. Diese Familie hat mich behandelt wie ihr eigenes Kind. Sie wurde zu einem Zufluchtsort für mich. Bei ihnen zu sein, bedeutete eine Erholung von meinem Zuhause. Ich war die ganzen Sommerferien fast ununterbrochen bei ihnen.

Als die Schule wieder begann, wohnte ich unter der Woche bei meiner Mutter. Und kaum war Freitag Nachmittag, nahm ich den Bus und fuhr zurück zu der Familie. Wenn ich bei ihnen ankam, schliefen die Kinder häufig noch. Dann konnte ich mit der Frau ein Kaffee trinken und erzählen, was in der Woche zuhause passiert ist. Das hat mir immer sehr gut getan. Sie war meine Ersatz-Mama.

Ich denke, ihr Mann wusste das haargenau, dass seine Familie ein wichtiger Zufluchtsort für mich war. Er war wie der Vater für mich, den ich nicht mehr hatte. Im nächsten Sommer, da war ich zwölf, hat er begonnen, meine Brüste zu berühren. Auch wenn ich mich weggedreht habe. Dann hat er angefangen, mir zwischen die Beine zu langen. Hat begonnen, mich zu befriedigen. Umgekehrt musste ich ihn dann auch befriedigen. Es war so schmerzvoll. Als hätte ich meinen Vater ein weiteres Mal verloren.

Schliesslich wollte er auch mit mir schlafen. Probierte es immer wieder, aber da konnte ich mich wehren. Ich begann, um mich zu schlagen, habe ihm gesagt, ich wolle nicht schwanger werden. Das hat ihn jeweils abgehalten. Aber das andere, da habe ich es nie geschafft. Er hielt mich fest, so dass ich nicht weg konnte, ich war ausgeliefert, hatte keine Chance.

Oft hat er mich alleine mitgenommen für Arbeiten wie Mähen oder Kühe zurück treiben. Da fanden die Übergriffe statt. Oder wenn wir irgendwo eine Weidhütte für die Kühe bereitmachen mussten, zack, hat er es ausgenutzt. Er fand immer Wege. Wenn ich geschrien hätte, hätte das niemand gehört. Ich habe immer damit gerechnet, dass was passiert, und jedesmal gehofft, dass nicht. Aber ich konnte wie nicht Nein sagen. Ich hatte das Gefühl, ich müsse doch helfen, schliesslich bezahlen sie mir das Essen und das Bett. Da fühlte ich mich verpflichtet, trotzdem mitzugehen. Wenn ich das erzähle, sehe ich alles bildlich vor mir. Alles. Wie ein Film. Es ist schrecklich, wie kann man sowas einem jungen Mädchen antun?

Ich ging trotzdem noch weitere zwei Jahre zu der Familie. Sie haben sich um mich gekümmert, waren mir die Familie, die ich zuhause nicht hatte. Das war für mich eine so grosse Erleichterung, dass ich das andere ertragen konnte. Der Schmerz wegen dem, was bei mir zuhause passierte, war zu dem Zeitpunkt grösser als der vom Missbrauch. Ich liebte die Kinder, die Arbeit mit den Tieren. Mit ihnen habe ich immer über alles geredet, speziell mit dem Hund. Das hat mir geholfen, das Ganze zu überstehen.

Ich mache mir selbst Vorwürfe. Dass ich nicht schon früher gegangen bin. Schon nach dem ersten Sommer gesagt habe: «Blasius, ich mache das nicht mit!» - dann wäre der Schmerz heute vielleicht kleiner. So denke ich immer: Ich habe ihm so lange die Chance gegeben, mich zu schädigen. Ich mache mir da selber Vorwürfe. Ich hätte ja früher reden können oder aufhören können, zu ihnen zu gehen.

Die Kraft dazu, die Beziehung zu beenden, hatte ich jedoch erst, als ich eine andere Familien kennengelernt habe, bei denen ich mich angenommen fühlte. Da habe ich Knall auf Fall beschlossen, nicht mehr zu ihnen zu gehen. Aber ich habe die Frau, die Kinder, die Tiere extrem vermisst. Bis heute habe ich ihr nicht gesagt, was passiert ist.

Danach habe ich den Missbrauch total verdrängt. Wie ein Schutzmechanismus. Erst, als ich im letzten Jahr begonnen habe, darüber zu sprechen, kam alles wieder hoch. Darüber zu sprechen war sehr schmerzhaft. Ich habe mir das nie so schlimm vorgestellt. Dass alles wieder hoch kommt. Der Ort, an dem es passiert ist. Wie es passiert ist. Das Wissen, ich wollte das nicht. Und es ist passiert.

Da ist so viel Schmerz. Ich fühle mich so eingeengt. So hilflos. Es tut einfach weh im Herz, dass ich eine von denen bin, die das erleben musste. Wo ich doch schon genug Scheisse im Leben erlebt habe, so dass ich das jetzt nicht auch noch gebracht hätte. Es ist reine Verzweiflung.

Seit ich darüber rede, fühlt es sich viel leichter an. Ich probiere, offen damit umzugehen. Trotzdem kommt so auch hoch, was ich jahrelang verdrängt habe. Fährt beispielsweise ein Fahrzeug vorbei, das aussieht wie ihres, befällt mich extreme Angst. In den unpassendsten Momenten überrumpelt mich die Erinnerung, zieht mir den Boden unter den Füssen weg. Dann bin ich zwei, drei Tage komplett am Boden, weil die Erinnerung mich eingeholt hat. Jetzt ist es hier und ich muss damit klarkommen. Das ist das Happige. Mir hilft in solchen Momenten extrem, wenn ich mit meiner Mentorin oder meiner besten Freundin über alles sprechen kann.

Ich war lange pornosüchtig wegen des Missbrauchs. Sich selbst befriedigen, da spürte ich meinen Körper, den ich sonst wie nie gespürt habe. Daraus ist die Sucht entstanden. Dabei habe ich in solchen Momenten nie an den Missbrauch gedacht. Es wurde eher wie ein Zufluchtsort, den ich jetzt loswerden will. Wenn ich Lust kriege, gehe ich joggen. Da komme ich ins Atmen, ins Schwitzen. Da beginne ich meinen Körper anders oder besser wahrzunehmen. Mit mehr Liebe. Es geht mir besser, wenn ich renne. Dann fühle ich mich gut.

Von ihm wurde meine Würde geraubt. Er hat meinen Körper berührt und mir genommen, was ich nicht geben wollte. Das kriege ich nicht zurück. Seither kann ich nicht mehr mit meinem Körper umgehen. Er ist zwar da. Aber es ist nicht der, den ich will. Weil er die Würde nicht mehr hat. In den Spiegel blicke ich nur, um mir eine Frisur zu machen oder um zu schauen, ob ich irgendwo Pickel habe. Dann blicke ich mich nicht mehr an. Make-up mache ich sehr selten an – ich ertrage es nicht, mich so lange anzuschauen. Mehrheitlich denke ich: Läck, was ist das für eine. Sie ist dick und hässlich. 

 

 

(*Namen der Redaktion bekannt, geändert)